Zu den bewegendsten Bildern, die in diesem zu Ende gehenden Jahr um die Welt gingen, gehören für viele Menschen die von der Wiedererstehung der Pariser Kathedrale Notre-Dame. Nur fünf Jahre nachdem eine der imposanten Kirchen der westlichen Christenheit beinahe einem Großbrand zum Opfer gefallen wäre, erstrahlt das mittelalterliche Juwel seit wenigen Wochen „schöner denn je“, wie der Staatspräsident Macron schwärmte.
Notre-Dame ist indes nicht die einzige Kathedrale, die jüngst von den Schlacken der Geschichte befreit, neu das Licht der Welt erblickt hat. Schon Ende November konnte die Berliner St.-Hedwigs-Kathedrale, die seit den Tagen Friedrichs des Großen den baulichen Abschluss eines der schönsten Plätze der Welt bildet, nach einer umfassenden Neugestaltung wieder ihrer Bestimmung übergeben werden. Auch wenn sich an der künstlerischen Gestaltung die Geister scheiden mögen – kaltlassen dürfte der nunmehr lichtdurchflutete Kuppelbau niemanden.
Denn beide Orte sind mehr als sakrale Räume, die allein den Gläubigen vorbehalten sind, die sich zum privaten Gebet und zur Feier des Gottesdiensts versammeln. Stadträumlich betrachtet, sind sie die Fluchtpunkte von Sichtachsen, die nicht nur religiös codiert sind, sondern ebenso politisch wie kulturell.
Symbolisiert Notre-Dame die bis weit in die Neuzeit hineinreichende Symbiose von Thron und Altar, so ist die im 18. Jahrhundert errichtete St.-Hedwigs-Kirche ein frühes Zeugnis religiöser Toleranz. An zentraler Stelle des Forum Fridericianum errichtet, war sie eine von mehreren Kirchen, in denen religiöse Minderheiten nach ihrer Façon selig werden sollten.
Mit allen Folgen für die Gesellschaft
Heute indes sind in Berlin und anderswo nicht mehr die Katholiken oder die Reformierten allein in der Minderheit. In ganz Deutschland gehört nicht einmal mehr die Hälfte der Bürger einer der beiden großen Kirchen an, im Osten des Landes sind es in manchen Regionen nicht einmal mehr zehn Prozent. Dabei wird es wohl nicht bleiben, allein schon deswegen, weil in jedem Jahr weniger Kinder getauft werden, als Christen sterben. Und die Neigung, den Kirchen durch Austritt den Rücken zu kehren, ist ungebrochen – mit allen Folgen für die Gesellschaft.
Längst beschränken sich die Spuren, die die sinkende Finanzkraft der Kirchen hinterlässt, nicht mehr auf den Binnenraum der Institutionen. Noch gibt allein die katholische Kirche in Deutschland (nach eigenen Angaben) rund 400 Millionen Euro im Jahr aus Kirchensteuern und Spenden aus, um historische Bauwerke samt ihren kulturellen Schätzen zu erhalten. Und noch in den vergangenen 30 Jahren sind 80 Kirchen und Museen wie „Kolumba“ in Köln neu gebaut worden. Aber dieses Momentum könnte bald zum Erliegen kommen.
Im Schatten der Kathedralen
Mittlerweile vergeht kaum ein Monat, in dem nicht Kirchengebäude profaniert, wenn nicht abgerissen werden. Nicht immer trifft es Bauten, deren Erhalt sich aus der Perspektive ihrer kirchlichen Eigentümer nicht mehr lohnt, sei es, weil die (Nachkriegs-)Bausubstanz zu schlecht ist, sei es, weil sie sich keiner anderen Nutzung zuführen lassen. Im Ruhrgebiet etwa stehen auch viele stadt- und damit sozialraumprägende Bauten wie die großen Kirchen der Zwischen- und der Nachkriegszeit zur Disposition.
Weil sich viele dieser Entwicklungen im Schatten der Kathedralen vollziehen, haben im Frühjahr Hunderte Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kultur und Denkmalpflege ein „Kirchenmanifest“ verfasst. Es soll dazu anregen, über neue Formen der Trägerschaft von Kirchen nachzudenken, um sie als „Gemeingüter“ zu erhalten, etwa durch Stiftungen.
Mit unvoreingenommenem Blick
„Gott braucht keine Kirchenbauten, aber die Menschen sind auf solche Räume angewiesen“, lautet eine der Prämissen der Verfasser. Doch wozu? Die Unterzeichner des Manifestes sind sich ihrer Sache sicher, auch wenn Beschreibungen von Kirchen als Orten „klug komponierter Kulturangebote und bürgerschaftlicher Begegnungen“ mitunter mehr Wunsch als Wirklichkeit sind und Wortungetüme wie „offene, spirituell bedeutsame Chancenräume einer Sorgenden Gemeinschaft“ eher abschreckend wirken.
Doch ein unvoreingenommener Blick in Kathedralen wie Dorfkirchen, in barocke Kapellen wie in romanische Basiliken gibt genau das zu erkennen: Wo sonst in bösen Tagen gemeinsam trauern, wie nun wieder in Magdeburg, wo sonst ein Zeichen der Hoffnung setzen und eine Kerze anzünden an einer Krippe, über der „Frieden auf Erden“ zu lesen ist?
Dass all dies niemanden vor einem sinnlosen Tod vor der Zeit bewahrt und keine Kanone verstummen lässt, ist richtig. Aber zur ganzen Wahrheit gehört, dass ohne den Glauben an die Weihnachtsbotschaft von der Heiligkeit und der Schutzbedürftigkeit jedes Lebens, und gerade die eines Kindes, die Erde ein Ort noch größerer Finsternis wäre.