„Es heißt, einige im Gefängnis sollen nichts so Schlimmes gemacht haben. Das mag stimmen oder nicht“, sagt Armando. Aber endlich könnten die Leute gefahrlos aus ihren Häusern gehen, nach all den Jahren der Bandengewalt. „Ich erinnere mich, dass dieser Park früher anders war. Man sah nicht so viele Menschen. Sie hatten Angst, hierherzukommen.“ Jetzt seien die öffentlichen Plätze sogar noch in der Dunkelheit gut besucht.
Seine Freundin Pamela ist auch begeistert. „Ja, es gibt Unschuldige im Gefängnis“, sagt sie. Die müssten von den Schuldigen getrennt und freigelassen werden. Aber auch für die junge Frau überwiegt das ungekannte Sicherheitsgefühl. „Ich habe sehr darunter gelitten, was in El Salvador passiert ist und viel geweint“, sagt sie. Die Banden haben ihren Onkel getötet und ihren Vater bedroht, der Polizist ist. Als Kind schon sah sie in den Nachrichten, wie ein Toter nach dem nächsten vermeldet wurde.
Er nennt sich „coolster Diktator“ der Welt
Pamela dreht sich um, und ihr Blick fällt auf das neue El Salvador. „Da spielen Kinder, das gab es zuvor nicht. Mich macht es so glücklich, das zu sehen. Ich musste als Mädchen zu Hause spielen“, erinnert sie sich. „Eine unvorstellbare Angst war das, sein Haus zu verlassen.“ Das sei nun alles Vergangenheit. „Heute schaut dieses Land so schön aus, so gesund.“
Dem Anschein nach so gesund, wie es Nayib Bukele versprochen hatte, als er vor fünf Jahren die blau-weiß-blaue Präsidentenschärpe umgelegt bekam und El Salvador mit einem „kranken Kind“ verglich, das „geheilt“ werden müsse. „Bittere Medizin“ verschrieb er dem zentralamerikanischen Land, das für brutale Bandengewalt bekannt war und unter einer der höchsten Mordraten weltweit litt. Nicht eine Sekunde zu viel verbrachte man in manchen Gegenden auf der Straße. Viele Bürger mussten Schutzgeld entrichten. Ein falscher Blick konnte tödliche Folgen haben. Sich in das „falsche“ Mädchen zu verlieben erst recht. Nun aber erobern die Menschen in der Hauptstadt die öffentlichen Plätze zurück, das Leben verlagert sich nach draußen, die Restaurants sind voll.
In einer Welt, die immer unsicherer wird, gilt El Salvador plötzlich als leuchtendes Gegenbeispiel oder gar als „coolstes Land der Welt“, wie Präsident Bukele es selbst ausdrückt. Seine Sicherheitspolitik findet Bewunderer in ganz Lateinamerika wie auch bei den Republikanern in den Vereinigten Staaten. Ausgerechnet Donald Trump aber will ihm das vermeintliche Wunder nicht glauben. Während eines Wahlkampfauftritts mokierte sich der ehemalige und künftige US-Präsident darüber, dass Bukele von allen Seiten so viel Lob erhalte. Dabei schicke der doch in Wahrheit seine Mörder in die USA, um sich der Bandengewalt zu entledigen.
Beweise dafür gibt es nicht. Aber tatsächlich haben sich Bandenmitglieder ins Ausland abgesetzt. Und je mehr man nachforscht, desto mehr zeigt sich, was wirklich hinter Bukeles Politik der harten Hand steckt – und welche Nebenwirkungen die „bittere Medizin“ zeitigt.
Bukele beherrscht die Sozialen Medien
Bukele, 43 Jahre alt, stammt aus einer wohlhabenden Familie, sein zum Islam konvertierter Vater ist palästinensischer Abstammung, und wohl auch deshalb bezeichnete er sich selbst als Schüler in einem Jahrbuch scherzhaft als „Klassenterrorist“. Heute nennt Bukele sich „coolster Diktator der Welt“. Er lockt Surfer in sein Land, das als erstes der Welt neben dem Dollar die Kryptowährung Bitcoin als amtliches Zahlungsmittel eingeführt hat. Und er hat, mithilfe von China, eine moderne und gut besuchte Bibliothek in Sichtweite des Präsidentenpalasts erbauen lassen.
Sein Aufstieg war rasant: 2012 wurde Bukele Bürgermeister einer Kleinstadt, 2015 Bürgermeister der Hauptstadt und 2019 Präsident El Salvadors. Geholfen hat ihm dabei sein Selbstdarstellungstalent. Über Instagram und Tiktok erreicht er seine Anhänger, das Durchschnittsalter der Bevölkerung liegt bei 27,4 Jahren. Bukele kam schon auf Zustimmungswerte von rund 90 Prozent, erst im Februar ist er mit mehr als 83 Prozent wiedergewählt worden. Dabei erlaubt die Verfassung eine Wiederwahl eigentlich nicht.
Doch Regeln und Gesetze scheren Bukele nicht. Schon wenige Monate nachdem er zum ersten Mal zum Präsidenten gewählt worden war, ließ er Soldaten im Parlament aufmarschieren, damit die Abgeordneten für einen Kredit stimmen, um die Polizei und das Militär besser auszurüsten. Sein Politikstil kam in der Bevölkerung gut an. Die Mordrate nahm rasant ab, und Bukeles Partei „Neue Ideen“ errang im Jahr 2021 in der Parlamentswahl 54 von 60 Sitzen, ein Erdrutschsieg.
Als im März des folgenden Jahres die Banden an nur einem Wochenende plötzlich 87 Menschen ermordeten, stand das Land unter Schock. Über die Gründe dafür, warum die Bandengewalt mit einem Mal wieder ausbrach, wird bis heute spekuliert. Was bekannt ist: Gesunken waren sie, wie Recherchen belegen, durch Absprachen mit den Banden. Und die Tage der Gewalt dienten Bukele als Argument, Grundrechte abzuschaffen und den Ausnahmezustand auszurufen. Der sollte zunächst 30 Tage dauern, wird bis heute aber fortwährend verlängert.
„Sie behandeln einen wie den schlimmsten Müll“
Mehr als 80.000 Bandenmitglieder soll es in El Salvador gegeben haben. Genauso viele sollen in den vergangenen Jahren inhaftiert worden sein. Doch es gibt starke Zweifel an der Version. Warum hätten sich all die morderfahrenen Bandenmitglieder widerstandslos einsammeln lassen sollen?
Tatsächlich wird immer klarer, dass es weiterhin Absprachen mit den Banden geben muss und viele Unschuldige eingesperrt werden. Seit Beginn des Ausnahmezustands kann die Polizei ohne Vorwarnung und richterlichen Beschluss und auch ohne Beweise Menschen festnehmen, die Wochen, Monate, Jahre auf einen Prozess warten müssen und sich dann nur kurz in Massenanhörungen per Videoschalte erklären dürfen. In El Salvador ist die Unschuldsvermutung der Schuldvermutung gewichen. Polizisten, die Quoten erfüllen müssen, haben nun freie Hand.
An einem Ort im Landesinneren, der aus Sicherheitsgründen geheim bleiben soll, haben sich rund 30 Salvadorianer versammelt, die den gleichen Schmerz teilen. Einige der Frauen vom Land haben auf dem Arm oder ihrem Schoß ein Tuch liegen, das für den Schweiß auf der Stirn gedacht ist, an diesem Tag aber auch dabei hilft, Tränen zu trocknen. Gekommen sind Mütter und Väter, deren Söhne und Töchter unschuldig im Gefängnis sitzen. Und auch einige, die selbst ohne Vorlage von Beweisen im Knast saßen und unter Auflagen vorerst freigekommen sind.
Zu dieser Gruppe gehört auch Valentín Ibáñez, der eigentlich anders heißt. Er bekommt Rechtshilfe von einer Organisation namens Socorro Jurídico, deren Anwälte mit Spendengeld von Adveniat mitfinanziert werden, dem Lateinamerika-Hilfswerk der katholischen Kirche in Deutschland. Ibáñez erzählt vor der Gruppe und anschließend im Gespräch seine Geschichte, die ein anderes Bild vom neuen El Salvador zeichnet.
Anfang des Jahres kamen demnach Polizisten in sein Büro und nahmen ihn fest. Warum genau, das weiß er bis heute nicht. Womöglich hatte ihn jemand angezeigt, der ihn nicht mag. Oder die Polizei musste bloß ihre Quote erfüllen. Nie habe er auch nur einer Fliege etwas zuleide getan, sagt Ibáñez. Und doch brachte man ihn in ein Gefängnis. „Es ist, als käme man in die Hölle“, sagt er. „Es ist ein trauriger Ort gewesen. Wer psychisch nicht gesund ist, stirbt vor Depressionen. Man verliert den Verstand. Sie behandeln einen wie den schlimmsten Müll.“
Ibáñez musste gedrängt mit den anderen Insassen auf dem Boden schlafen, 600 Leute teilten sich fünf Toiletten, Essen gab es nur wenig. Rund 18 Kilo verlor Ibáñez in Haft. „Die Wächter schlugen einen, wenn man nicht machte, was sie sagten, sie folterten.“ An manchen Tagen bekamen sie nicht mal Wasser. „Pilze übersäten unsere Haut“, sagt Ibáñez. Manche Leute seien ohnmächtig geworden, andere gestorben. „Es waren die 88 schlimmsten Tage meines Lebens“, sagt Ibáñez. Nur der Glaube hielt seine Hoffnung lebendig. „Es waren Gott und die Jungfrau Maria, die mich dort herausgeholt haben“, ist er sich sicher.
Immerhin miteinander sprechen konnten die Insassen. So erfuhr Ibáñez, dass viele von ihnen Bukele gewählt hatten, dass sie das nun bereuten und den Präsidenten verfluchten. Ibáñez sagt, es sei richtig, Verbrecher zu belangen, aber es treffe oft die Falschen. „Sie nehmen den Sohn, die Tochter, die Mutter, den Vater mit. Ich habe ganze Familien da drin gesehen. Unschuldige Menschen.“ Viele sagten, wenn sie aus dem Gefängnis kämen, würden sie das Land verlassen. Auch Ibáñez hat schon darüber nachgedacht. Aber er glaubt trotz allem noch daran, beweisen zu können, dass er unschuldig ist. Nächstes Jahr im August wird über seinen Fall final entschieden.
Auswandern ist teuer, aber viele denken daran
Hatten die Vereinigten Staaten Präsident Bukele zunächst noch kritisiert und vor einer Aushöhlung der Demokratie gewarnt, hielten sich Präsident Joe Biden und Vizepräsidentin Kamala Harris im Laufe der Zeit wohl aufgrund der Wahl im eigenen Land immer mehr zurück. Denn die Zahl der Salvadorianer, die illegal in die Vereinigten Staaten einreisen, ist drastisch zurückgegangen, allein von 2022 auf 2023 um mehr als 35 Prozent. Washington hegt also die Hoffnung, dass der Trend sich fortsetzt. Ob sich dieser Wunsch erfüllt, ist zweifelhaft, wie nicht nur der Fall von Ibáñez zeigt.
So gibt es schon die ersten Salvadorianer, die aus Angst vor einer Festnahme das Weite suchen. Zu ihnen gehört auch der Bruder von Maria González, der einst auch von Präsident Bukele überzeugt war und ihn gewählt hat. González, die eigentlich anders heißt, erzählt, wie eines Nachts die Polizisten in das Haus ihrer Familie stürmten und alles durcheinanderwühlten. Wo ihr Bruder sei, wollten sie wissen. In San Salvador, sagte González ihnen. Wann er wiederkomme, fragten sie. Sie wisse es nicht, antwortete González. Dann drohten die Polizisten, ihre Mutter festzunehmen, weil die ihren Sohn schütze.
In der folgenden Zeit kamen die Polizisten immer wieder vorbei. In Telefongesprächen warnte Maria González ihren Bruder, der in der Hauptstadt studierte: „Komm nicht, komm nicht! Sie warten auf dich, sie suchen dich.“ Dann hielt es die Familie nicht mehr aus. „Du gehst. Du verschwindest aus diesem Land. Denn hier suchen sie dich und werden dich einsperren.“ Über eine Bekannte erhielten sie den Kontakt eines Schleppers, der den Bruder für 18.000 Dollar in die Vereinigten Staaten brachte. Eine handelsübliche Summe, die nur stemmbar war, indem sich die Familie Geld bei Freunden borgte.
Im Gefängnis genießen die Bandenmitglieder viele Vorzüge
Bis sie so viel Geld zusammenhat, muss Carmen López, eine 33 Jahre alte Frau, die an einem anderen Ort im Landesinneren lebt und ihren echten Namen aus Angst vor den Behörden ebenfalls nicht in der Zeitung lesen will, noch lange sparen. Fürs Erste ist sie ohnehin verschuldet: Anwaltskosten. Aber dass sie nach alldem, was ihr widerfahren ist, auswandern will, steht für sie fest.
An dem Tag, als ihr Sohn zehn Jahre alt wurde, sperrten Polizisten López ins Gefängnis. Sie warfen ihr vor, Teil einer kriminellen Vereinigung zu sein. Eine Behauptung, die häufig vorgebracht wird, um Salvadorianer zu inhaftieren. „Auf dem Weg zum Gefängnis haben sie gesagt, wir seien Bandenmitglieder. Ich sagte, ich gehöre keiner Bande an.“ 13 Monate verbrachte sie im Gefängnis. „Die ersten Tage hatten wir gar nichts. Wir haben gefroren, hatten 15 Tage lang die gleiche Kleidung an wie am Tag der Verhaftung. Unsere Familienangehörigen suchten uns.“ Vor allem für Frauen, die ihre Periode hatten, sei das furchtbar gewesen. „Es ist schlimm, wie sie uns behandelt haben. Sie sagten, wir seien der Abschaum El Salvadors, wir seien die Pest.“
Während der Zeit im Gefängnis habe sie sich viele Sorgen gemacht, sagt López, vor allem um ihre Kinder. Sie habe sich gefreut, wenn sie ein Paket der Familie erhalten habe. Aber es seien auch Leute inhaftiert worden, weil sie Pakete brachten. Denn ihnen wurde vorgeworfen, mit Verbrechern zu kollaborieren.
In dem Sektor des Gefängnisses, in dem sie einsaß, waren rund 2000 Frauen. Davon seien aber nur rund 200 Bandenmitglieder gewesen, sagt López. Man habe die Schwerkriminellen an den vielen Tätowierungen erkannt und an ihrem Verhalten. „Uns jagte es Angst ein, diese tätowierten Menschen zu sehen“, sagt López. Wie die anderen unschuldigen Insassen mied sie die Bandenmitglieder. Die trugen bessere Kleidung, durften früher und länger duschen und genossen auch sonst viele Vorzüge. Alle anderen mussten auf dem Boden schlafen, manche im Stehen.
Auch López hat einst Bukele gewählt, weil sie dachte, er würde das Land voranbringen. Jetzt sei alle Welt geblendet von den vermeintlichen Erfolgen seiner Politik. „Es gibt immer noch Menschen, die nicht glauben, was wir erleben in El Salvador“, sagt López. „Nein, hier sind wir ja im coolen Land, wie es jetzt heißt. Ich sage: Kommt her, schaut euch die Realität an.“
Im Mai kam López frei. Sie ging durch das Gefängnistor und zu einem Verkaufsstand an der Straße, wo man ihr Kleidung und Saft schenkte. Wie ihre Familienangehörigen heißen, wurde sie gefragt. „In diesem Moment habe ich mich nicht mal an die Namen meiner Kinder erinnert“, sagt López. Sie wurde ohnmächtig. Noch heute passiert das ab und zu. Immer wieder zittern ihre Hände. „Die Angst bleibt“, sagt López. „Werden sie wiederkommen?“ Einmal im Monat muss sie nun bei der Polizei vorstellig werden, bis final über ihren Fall entschieden wird.
„Ich glaube, wir haben uns alle in ihm getäuscht“, sagt López über Präsident Bukele. „Es sind nicht nur ein paar Unschuldige, sondern Abertausende.“ Während in San Salvador die Menschen wieder auf die Straße gehen, traue sich bei ihr auf dem Land nach Einbruch der Dunkelheit niemand mehr nach draußen. „Früher hatten wir Angst vor den Banden, heute vor den Sicherheitskräften“, sagt sie.
Ihrem Sohn fehlten die Organe
An einem anderen ländlichen Ort sitzt Ana Rodriguez in einer Hütte mit Wellblechdach auf einem Plastikstuhl und hält einen hölzernen Bilderrahmen auf ihrem Schoß. Das Foto darin zeigt ihren Sohn wenige Tage vor dessen Festnahme. Aus Angst vor der Polizei bleibt auch ihr wahrer Name geheim, ihr Sohn soll auf ihren Wunsch hin hier Inocente González heißen. Inocente, das heißt auf Deutsch unschuldig.
Vor zweieinhalb Jahren, erzählt Rodriguez, kamen drei Polizisten nachts in ihre Hütte und rissen ihren damals 22 Jahre alten Sohn aus seiner Hängematte und warfen ihn zu Boden. „Es hat sie nicht geschert, dass die Geschwister das mitansehen mussten“, sagt Rodriguez. Ihren Sohn beschuldigten die Polizisten, ein Bandenmitglied zu sein und eine Waffe zu besitzen. Sie fanden zwar keine, aber nahmen ihn trotzdem mit ins Gefängnis.
Ana Rodriguez kratzte fortan Monat für Monat ihr Geld zusammen, um ihm Pakete mit Socken, Jeans, Seife und Zahnpasta zu bringen. All das in dem Wissen, dass vieles davon nicht bei ihm ankommen würde – die Gefängnismitarbeiter, so berichten es mehrere Freigekommene, behalten solche Pakete oft für sich.
Auch ihr Sohn habe für Bukele gestimmt, erzählt Rodriguez. Sie habe ihn noch gewarnt, die „bittere Medizin“ werde furchtbar. Bald erfuhr Rodriguez, dass ihr Sohn im Gefängnis krank geworden war. Ein anderer Junge aus der Gegend, der freigekommen war, erzählte ihr davon. Er war im selben Gefängnis wie Inocente González gewesen und berichtete ihr, dass ihr Sohn Husten hatte und die Wärter ihn so sehr schlugen, dass er Blut erbrach. Vor einem Jahr bekam Rodriguez dann einen Anruf: Ihr Sohn sei im Gefängnis verstorben. „Dieser Schmerz wird nie mehr vergehen“, sagt sie. Das Beerdigungsinstitut stellte beim Einbalsamieren der Leiche dann auch noch fest, dass ihrem Sohn Organe entnommen worden waren. Sogar sein Herz fehlte.