Am 9. August 2014 tauchte eines der in seiner Schaurigkeit berühmtesten Bilder des 21. Jahrhunderts im Internet auf. Noch heute läuft es mir kalt über den Rücken, wenn ich daran denke. Der orange Overall. Die schwarze Sturmmaske. Der Streifen zwischen Wüste und Himmel. Das Messer, das der Henker wie selbstverständlich an seinem Bein hält. Die Vorahnung. Später dann – ausgeschnitten aus einem Video – die gespenstische, fast unglaubwürdige Aufnahme eines jungen Mannes, dessen abgetrennter Kopf auf seinem Rücken liegt.
Das Foto ging um die Welt und erschütterte unser aller Seelen.
Jim Foley, ein amerikanischer Journalist, war die erste einer Reihe von Geiseln, die vom IS, einer damals noch relativ unbekannten dschihadistischen Gruppierung, in einem barbarischen Feldzug gegen Zivilpersonen ermordet wurden. Dass Fotos und Video der Tat im Netz zu sehen waren, machte das Ganze noch entsetzlicher. Das Bild landete in Posteingängen auf der ganzen Welt, und aus den finsteren Ecken des Internets tönte so etwas wie perverse Schadenfreude.
Beklemmend, aber auch fesselnd
So oft kommen Seiten von uns zum Vorschein, die wir gerne verleugnen. Das Bild war aufwühlend und zutiefst beklemmend, aber auch fesselnd. Sieh es dir an, nein, lass es sein. Der Tod war nur einen Klick entfernt.
Am selben Tag, während ich noch unter Schock stand, mailte ein Freund mir ein ganz anderes Foto. Ein gutaussehender junger Mann saß in Schutzweste und Jeans in einer Sandsackfestung. Sonnengebräuntes Gesicht, kräftiges Kinn, unrasiert. Das Foto strahlte tiefe Ruhe und Selbstbeherrschung aus. Er las in einem Taschenbuch mit einem roten Querstreifen oben auf dem Einband.
Manchmal fliegt ein Vogel gegen die Fensterscheibe. Der dumpfe Aufprall der Überraschung.
Auf einmal verstand ich, warum mein Freund das Foto geschickt hatte. Ich starrte verblüfft auf den Bildschirm. Jemand hatte Jim Foley – irgendwo, irgendwann – fotografiert, als er einen meiner Romane, „Die große Welt“, las. Ich klickte das Bild weg, dann öffnete ich es wieder, als wollte ich seine Echtheit überprüfen.
Alle Sprache verschwunden
Ich fühlte, dass wir Seelenverwandte waren. Wir tauschten sozusagen Wörter. Eine Geschichte berührte eine andere. Nur waren die Wörter gestohlen und er enthauptet worden. Alle Sprache verschwunden.
Kurz darauf beschloss ich, seine Mutter, Diane Foley, zu kontaktieren. Ich besorgte mir ihre E-Mail-Adresse und bot mich an, ihr beim Schreiben der Geschichte ihres Sohnes oder vielmehr ihrer eigenen zu helfen, sollte sich zufällig die Gelegenheit ergeben. Wochen, Monate vergingen, bis ich fast ein Jahr später hörte, dass sie einen Buchvertrag unterschrieben hatte. Da hast du die Antwort, sagte ich mir. Lass es gut sein. Sie braucht dich nicht, um ihre Geschichte zu erzählen.
Als Geschichtenflüsterer dienen
Sechs Jahre später. Ich hatte einen Roman geschrieben, der im Nahen Osten spielte, „Apeirogon“. Das Buch stand nicht in direktem Bezug zu Jim Foley, dennoch hatte ich das Gefühl, dass er mich irgendwie dazu inspiriert hatte: Das Foto von ihm in der Sandsackfestung hing all die Jahre in meinem Arbeitszimmer. Bei einem Zoom-Meeting mit einem Lesezirkel der Marquette University (Jims Alma Mater) erwähnte ich, dass ich versucht hatte, Kontakt zu Diane aufzunehmen, und mich das Foto ihres lesenden Sohnes noch immer tief berührte. Wie durch ein Wunder nahm Diane auch an dem Zoom-Meeting teil. Eine Stunde später hatte ich Post. Meine E-Mail sei ihr wohl entwischt, schrieb sie. Sie habe in den letzten Jahren immer wieder versucht, ihre Geschichte aufzuschreiben, sei jedoch aus unterschiedlichen Gründen gescheitert.
Ich schlug vor, von New York nach New Hampshire zu kommen, um mich mit ihr und ihrem Mann zusammenzusetzen und ihr vielleicht als „Geschichtenflüsterer“ zu dienen. Vielleicht, dachte ich, könnte ich dazu beitragen, das Eis auf dem zugefrorenen Meer, dem sie als Mutter und Erzählerin begegnet war, ein Stück weit zu schmelzen.
Ihr Mann John sagte, ich erinnere ihn an Jim. Im Zimmer, in dem ich schlief, lagen noch ein paar von Jims alten Sachen.
Ein lesender Mann in einer Festung
Am zweiten Abend erfuhr ich zu meinem Erstaunen, dass zwei der Mörder ihres Sohnes – die berüchtigten „Beatles“ – in Syrien gefasst worden waren; man hatte ihnen die britische Staatsbürgerschaft entzogen und sie in die USA gebracht, wo sie ein Prozess wegen Verschwörung zur Folter und zum Mord erwartete. Der eine, Alexanda Kotey, hatte einem Deal mit der Staatsanwaltschaft zugestimmt. Dazu gehörte unter anderem, dass er mit den Opfern und/oder ihren Familien sprechen würde.
Und so begann ein einjähriges Projekt, in dem ich Diane dabei half, ihre Geschichte zu erzählen. Die Fotos waren in meinen Gedanken immer präsent. Beide hatten sich auf meine Netzhaut gebrannt. Auf dem einen die Wüste, das Orange, das Messer, der mörderische Sand. Auf dem anderen, dem Foto in meinem Arbeitszimmer, ein lesender Mann in einer Festung.
Aber Fotos haben wie Geschichten selten ein Ende. Sie hallen nach. Ihre Rätsel treiben uns an. Diane und ich fragten uns oft, wo und von wem das Foto aufgenommen worden war. Ich hatte das Internet durchforstet, aber nichts gefunden.
Der leere Stuhl
Und dann, an einem Abend im vergangenen November, besuchte ich mit Diane in New York ein Benefizkonzert für Narrative 4, ein internationales gemeinnütziges Storytelling-Netzwerk. Auf der Bühne sang Sting „The Empty Chair“, das er für ihren Sohn geschrieben hatte. Hinter ihm wurde auf einer riesigen Leinwand das Festungsfoto eingeblendet. Im Publikum ertönte leises Raunen. Jemand erkannte das Foto. Sein Cousin hatte es gemacht.
Noch eine Fensterscheibe.
„Ja, das Foto ist von mir“, sagte Bill Wilder in unserem Telefonat einige Tage später. Bill war Maschinengewehrschütze bei der 101. Luftlandedivision in der afghanischen Provinz Kunar gewesen. „Wir waren in einem Außenposten namens Pride Rock, oben in den Bergen. Wir hatten keine Ahnung, dass ein Reporter kommt, und waren uns nicht sicher, ob wir ihn in der Truppe haben wollten. Aber Jim war wie ich aus New Hampshire, und wir verstanden uns prächtig. Wir hatten sogar gemeinsame Bekannte. Er war unglaublich cool, die Ruhe selbst. Und mutig. Er löcherte uns mit unbequemen Fragen.
Er saß bei mir in der Festung. Ich bediente ein Kaliber ’50. Die Festung war unser Schlafbereich. Manchmal wurde es laut, ich meine, so richtig laut. Aber Jim las einfach weiter in seinem Buch. Es war unglaublich. Es hatte eine Menge Truppenabzüge gegeben, aber Jim wollte unbedingt bei jeder Kampfhandlung dabei sein. ‚Setzt den Helm auf, Mann‘, sagte ich jedes Mal. Danach widmete er sich wieder seinem Buch. Nicht zu fassen, dass er in diesem Chaos las. Einmal sagte ich zu ihm: ‚Du kannst nicht immer bloß der Schatten hinter der Kamera sein.‘ Also schnappte ich mir das Ding in einem ruhigen Moment und schoss das Foto.“
Heute, zehn Jahre nach seinem Tod, zeigt Jim Foleys Schatten in alle möglichen Richtungen. Er bleibt uns als furchtloser Reporter in Erinnerung. Sein Andenken ruft die Kraft differenzierter Berichterstattung in einer an Gewissheiten krankenden Zeit wach. Diane hat die James W. Foley Legacy Foundation ins Leben gerufen, die sich für andere Geiseln einsetzt und dafür wirbt, die Sicherheit von Journalisten auf der ganzen Welt zu verbessern. Und Jim ist trotz seines grausamen Todes zu einem Symbol der Hoffnung geworden.
Sein Bild hat sich auf unser aller Netzhaut gebrannt – nicht so sehr der kniende Mann in der Wüste, sondern der unaufhörlich schreibende Geschichtenerzähler.
Colum McCann wurde 1965 in Dublin geboren und lebt heute in New York. Sein mit Diane Foley verfasstes Buch „American Mother“ erscheint am 10. Dezember in deutscher Übersetzung bei Rowohlt.
Aus dem Englischen von Volker Oldenburg.