Gerade ist das „Ampel-Aus“ Wort des Jahres in Deutschland geworden. Auch die Niederlande bestimmen einen Begriff, der das zu Ende gehende Jahr besonders geprägt hat. Während hierzulande die Gesellschaft für deutsche Sprache hinter dem Projekt steht, ist es im Nachbarland der Wörterbuchverlag Van Dale, eine Art Pendant des Dudens. Er stellt zehn Kandidaten zur Auswahl und lässt online abstimmen. Üblicherweise sind es Begriffe, die in den Medien neu auftauchen und für neue Phänomene oder Probleme stehen.
Im vergangenen Jahr etwa gewann „graaiflatie“, die „Abgreifinflation“ oder „Gierflation“, Englisch „greedflation“. Eine Inflation, die dadurch befeuert wird, dass Unternehmen dem Verbraucher mehr als nur die eigenen Kostensteigerungen aufbürden. 2022 hatte der „klimaatklever“, der Klimakleber, den ersten Platz errungen. Im Jahr 2015 hinterließ Volkswagen mit seiner Manipulation von Abgastests sprachliche Spuren in der niederländischen Sprache: die „sjoemelsoftware“ („Schummelsoftware“) wurde Nummer eins.
Diese Woche kam nun die Auswahlliste für das Jahr 2024 heraus. Bürger sollten bis 16. Dezember, 17 Uhr, abstimmen – tags drauf um fünf Uhr sollte das Ergebnis veröffentlicht werden. „Schummeln“ war nach Jahren wieder dabei, diesmal im „sjoemelscooter“ , dem „Schummelroller“ – für ein Fatbike, das eher wie ein Motorroller daherkommt. Dieser Begriff war harmlos, doch andere Kandidaten erzürnten Nutzer in sozialen Medien so sehr, dass Van Dale erstmals den Wettbewerb abgeblasen hat.
„Sehr unschöne gesellschaftliche Diskussion“
„Das ist eine schlechte Nachricht für die niederländische Sprache“, sagte Ton den Boon, Chefredakteur des Standardwörterbuchs Dikke Van Dale, dazu am Samstag im niederländischen Radio. Laut Verlag haben Aktivistengruppen die Wahl gekapert, die gegen oder auch für bestimmte Kandidaten gekämpft hätten. „Die Kommentare rund um diese Wörter sind in eine sehr unschöne gesellschaftliche Diskussion ausgeartet, womit die Wahl das Ziel verfehlt. Dieses Jahr wird noch heftiger reagiert als in anderen Jahren.“
Einer der Kandidaten war „transitiespijt“, das Übergangsbedauern, das Transpersonen erleben könnten. Menschen aus der Transgemeinschaft hätten geltend gemacht, das Wort komme aus der konservativen Ecke und werde abwertend gebraucht, sagte Den Boon. Daraufhin hätten andere dazu aufgerufen, erst recht dafür zu stimmen. Widerstand rief zudem der „pieperaanval“ hervor, der „Pager-Angriff“, der die Explosionen von Hizbullah-Pagern bezeichnet, ebenso der „Gen Z-stagiair“ („Gen-Z-Praktikant“). „Wörterbücher registrieren Sprache, ohne dass wir für oder gegen ein Phänomen sind“, argumentierte Den Boon in der Zeitung „Trouw“, für die er auch Sprachkolumnist ist. „Wir sind ja gerade neutral. Aber das kann man offensichtlich nicht mehr auseinanderhalten.“
Ob die Öffentlichkeit 2025 wieder wählen kann, ist noch nicht entschieden. In Belgien, wo eine ähnliche Abstimmung stattfindet, geht die diesjährige Wahl im übrigen weiter – trotz des „bieperaanval“, des „Pager-Angriffs“, der dort als Kandidat auf der Liste steht. Die Nachbarn im Süden sind nach Den Boons Einschätzung vielleicht weniger leicht erregbar.
Die Niederlande bekommen ihr „Wort des Jahres 2024“ dennoch und das nun verfrüht. Denn Van Dale hat den Gewinner selbst bestimmt – und sich für ein Wort jenseits der Liste entschieden. Eines, welches das Jahr vielleicht mehr als alle anderen prägt: „Anlässlich der heftigen Reaktionen auf die Wahl dieses Jahres, die den Zeitgeist illustrieren, ist Van Dales Wort des Jahres 2024 in den Niederlanden: ‚Polarisierung’.“