Den perfekten Skispringer, sagt Sven Hannawald, gibt es nicht. Aber solche, die nah dran sind an der Perfektion. Andreas Wellinger ist es bei der an diesem Samstag zu Ende gehenden 72. Vierschanzentournee einmal in Garmisch-Partenkirchen gelungen, den fast perfekten Sprung zu zeigen. Doch dann kam die Landung.
Hannawald, der erste Grand-Slam-Sieger der Tourneegeschichte, wartet seit 22 Jahren darauf, dass der Goldene Adler endlich wieder nach Deutschland kommt. Wellinger hat im Gesamtklassement nach der dritten Teiletappe am Innsbrucker Bergisel überschaubare 2,66 Meter Rückstand auf Platz eins und nun die Chance, beherzt zuzugreifen. Nur noch einer kann ihm den großen Traum zunichte machen: Ryoyu Kobayashi.
„Wie ein Vogel“
Der kleine große Japaner also. Der Stilist und Virtuose der Lüfte. Der Mann, „der wie ein Vogel fliegt“, wie Wellinger schon vor Jahren schwärmte. Kobayashi, mittlerweile 27 Jahre alt, hat sich heimlich, still und leise in eine vorzügliche Lage gebracht. Er hat weder das Auftaktspringen in Oberstdorf gewonnen, noch ist es ihm gelungen, in Garmisch-Partenkirchen und Innsbruck spitze zu sein.
Doch die Addition seiner konstant starken Leistungen hat ihn wieder nach ganz oben gebracht. Zweiter, Zweiter, Zweiter. Nicht ausgeschlossen, dass Kobayashi auch beim Finale in Bischofshofen Zweiter wird – und trotzdem die Tournee gewinnt. Der letzte, dem dieses Kunststück geglückt ist, kommt aus Finnland und war eine der Ikonen des faszinierenden Freiluftsports Skispringen: Janne Ahonen. Bei der Tournee 1998/1999 ist das gewesen.
Der deutsche Skisprung-Weltmeister Martin Schmitt verfolgt als profunder Experte für Eurosport die Szene der Flugkünstler. Der Schwarzwälder geht demnach nicht davon aus, dass Kobayashi auf der Paul-Außerleitner-Schanze alles auf eine Karte setzen wird. „In Bischofshofen wird er nicht auf Teufel komm raus auf den Tagessieg gehen“, sagt der 45-Jährige. „Er will den Goldadler. Dafür wird er sich in Stellung bringen.“
„Spürt Dinge, die kein anderer spürt“
Kobayashi ist ein Könner. Er war 2019 nach Sven Hannawald 2002 und Kamil Stoch 2018 der dritte Skispringer, der alle vier Einzelspringen der Vierschanzentournee gewonnen hat. Einmalig, wie er nicht nur damals in scheinbar perfekter Harmonie sofort nach dem Absprung vom Schanzentisch in sein stabiles Flugsystem gekommen ist.
Der lange für das ZDF als Experte arbeitende Skisprung-Olympiasieger Toni Innauer schwärmte: „Er spürt Dinge in der Luft, die sonst kein anderer spürt.“ Dass es jetzt zur ultimativen Entscheidung ausgerechnet in Bischofshofen kommt, hätte dramaturgisch besser nicht sein können. Sowohl Kobayashi als auch Wellinger bezeichnen Bischofshofen als ihre Lieblingsschanze. Ein flacher Anlauf, der große Weiten möglich macht. Es ist eine Fliegerschanze – und sowohl der Japaner als auch der Deutsche sind Flieger.
Springen, fliegen, staunen. Was so leicht aussieht, ist große Kunst. Kobayashi ist ein Künstler. Einer, der mit zwei langen Ski unter seinem Körper Famoses anstellt. Einer der Schlüssel seines Erfolgs ist die Skiführung. Sobald Kobayashi vom Schanzentisch abhebt und in die Flugposition geht, sind beide in V-Stellung stehende Ski plan.
„Ich trinke keinen Kaffee“
Wer aufs Podest fliegt, muss reden. So sieht es das Reglement der Vierschanzentournee vor. Die drei Erstplatzierten nach den vier Einzelspringen müssen zur obligatorischen Pressekonferenz. Auch Kobayashi, der meist einsilbig auftritt und sich von Markus Neitzel übersetzen lässt.
Neitzel hat 13 Jahre lang als evangelikaler Missionar in Japan gelebt. Er ist die deutsche Tournee-Stimme Kobayashis geworden. Eigentlich eine schöne Aufgabe, doch Neitzel hat kaum etwas zu tun, denn Kobayashi gibt sich meist wortkarg, ja mitunter lustlos. Sätze wie „Ich bin sehr glücklich“ oder „Ich denke nur an meinen nächsten Sprung“ sind Konversations-Klassiker.
Kobayashi lässt kaum jemanden an sich heran. Als er an Neujahr gebeten wurde, etwas über sein Verhältnis zu Wellinger zu sagen, wenn sich denn die beiden mal zu einem Kaffee treffen, ließ sich Koboyashi so übersetzen: „Ich trinke keinen Kaffee.“
Ausreißer? Fehlanzeige. Haltungsnoten? Immer top. So auch am diffizilen Bergisel, wo der Wettkampf wieder mal zu einer Windlotterie wurde. Kobayashi erhielt von den Wertungsrichtern exakt die gleichen Noten wie Wellinger. „Ryoyu hat zuletzt wieder extrem stark performt“, sagte der Deutsche über seinen großen Widersacher. „Er ist ein hochtalentierter Springer. Er weiß, was zu tun ist. Jetzt bin ich nicht mehr der Gejagte, sondern der Jäger“, sagte Wellinger. Und versprach: „Ich werde angreifen und in Bischofshofen voll aufs Pedal steigen.“